Marisa Merz – Erbsen und Engel

Wie viele Erbsen passen in einen Suppenteller? Wie viele Maschen braucht es, um einen Fuß zu umschließen? Wie groß ist der Raum, den wir Himmel nennen?

Im Jahr 1967 sitzt die italienische Künstlerin Marisa Merz in ihrer Turiner Küche vor einem Teller Erbsen. Auf dem dreiminütigen 16-mm-Stummfilm La Conta (1967) sieht man sie, wie sie eine Erbse nach der anderen mit den Fingern aufnimmt und feinsäuberlich durchzählt. Eine eintönige und zeitraubende Tätigkeit. Hinter ihr hängt ein gebogenes Aluminiumrohr von der Decke, der Anfang eines lebenslangen Projekts. Sie hatte Mitte der 60er Jahre damit begonnen, eine oktopusartige Skulptur anzufertigen und dafür hunderte Aluminiumschalen zu langen Schläuchen zusammenzufügen. Mit der Living Sculpture (1966) begann Marisa Merz als Künstlerin in Turin in Erscheinung zu treten. Als ortsspezifische Installation entstanden, machte die wachsende Skulptur die Wohnung der Familie zu Werkstatt und zugleich zum Ausstellungsraum.

Nun, über 50 Jahre später, ist der mächtige Aluminiumkörper durch zahlreiche Galeriesräume gewandert und hat einen temporären Platz in der Retrospektive Marisa Merz. Il cielo è grande spazio / Der Himmel ist weiter Raum im Museum der Moderne in Salzburg gefunden. In unmittelbarer Nähe der Living Sculpture sind neben der Videoarbeit auch zwei fragile Strickobjekte der Künstlerin zu sehen. Aus weichem Nylonfaden hat Merz geometrische Formen, Kinderschuhe (Scarpette, 1966) und die ersten drei Buchstaben des Namens ihrer Tochter Beatrice gestrickt (BEA, 1968). Schwarz angelaufene Stricknadeln durchbohren das feinmaschige Objekt und erinnern an den mühseligen Prozess der Anfertigung.

So wie die gestrickten Buchstaben verweist auch die Arbeit Altalena (Swing) aus dem Jahr 1968 auf das Familienleben der Künstlerin. Bei der Schaukel handelt es sich um ein Spielgerät, das jedoch nicht für Kinder gemacht zu sein scheint. Die hölzerne Sitzfläche ist dreieckig und so stark geneigt, dass man sich gut festhalten muss, um nicht herunter zu rutschen. Für die Wohnung der Familie Merz entstanden, erfüllte die Schaukel höchstwahrscheinlich mehrere Funktionen: Sie diente zur Beschäftigung ihrer Tochter Bea und war zugleich Kunstinstallation für Freunde und Bekannte. So wie sich die Schaukel einer spezifischen Definition als Spielzeug oder Kunstobjekt entzog, so ließ sich auch Marisa Merz nicht auf eine der für sie vorbestimmten Rollen festlegen.

Holz, Aluminium, Nylonfaden – für ihre Arbeiten verwendete Marisa Merz vor allem simple Materialien. Die Geste der Hierarchielosigkeit, mit der sich Merz an den Stoffen und Techniken bediente, steht in engem Zusammenhang mit der italienischen Arte Povera-Bewegung. Doch bei Marisa Merz geht das Prinzip der Poversiti über die Auswahl und Verwendung einfacher – “armer” – Materialien hinaus. In ihrem Frühwerk scheint vor allem der Prozess der Anfertigung eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen aus einer dezidiert weiblichen Perspektive auszudrücken. Merz war eine der wenigen Frauen, die in der männlich dominierten Kunstszene der 60er und 70er Jahre als Künstlerin in Erscheinung trat, wenn sie in ihrer Popularität auch lange hinter ihrem Ehemann zurückblieb. Sowohl die fertigen Objekte als auch der Film verweisen auf das performative Moment des “Nähens”, Strickes und der monotonen Arbeit in der Küche. Auch das buchstäbliche “Großziehen” der Skulptur kann als symbolische Auflösung der Trennung zwischen Reproduktionsarbeit im Haushalt und künstlerischen Arbeit gedeutet werden. Indem sie also alltägliche, oft weiblich konnotierten Tätigkeiten in den künstlerischen Arbeitsprozess überführte, verschob sich der für die Poveristi typische Fokus von der Kritik an Luxus und Konsum auf eine Untersuchung der Rolle der Frau im Italien der 60er Jahre.

Dass die Kuratorin und Direktorin des Museums, Sabine Breitwieser, die Objekte in Salzburg in unmittelbarer Nähe zueinander arrangiert hat, macht daher nicht nur aufgrund des Entstehungszeitraums Sinn. Nylonstrickerein, Skulptur und Filmarbeit weisen auch einen engen thematischen Bezug zueinander auf. In einer von Katholizismus und Machismo geprägten Gesellschaft war Merz als Frau mit verschiedenen Rollenanforderungen konfrontiert, die sie durch ihr künstlerisches Schaffen miteinander verschränkte und damit herausforderte. Den Umständen ihrer Doppelrolle als Künstlerin, Mutter und Ehefrau geschuldet, machte sie ihre Küche zu ihrem Atelier und ihre Arbeit als Hausfrau zum Inhalt ihrer Kunst. Auf diese Weise gelang es Merz, die Vorstellung vom “trauten Heim” und die Monotonie der Hausarbeit zu unterlaufen und in eine Mehrdeutigkeit zu überführen. Denn die absurde Geste des Erbsenzählens, das Stricken, Schaukeln und das ganz und gar un-heimlich anmutende Aluminiumgefüge öffneten einen künstlerischen Raum innerhalb der häuslichen Sphäre, in dem sich die vermeintliche Trennung zwischen privat und öffentlich aufzulösen begann. Dies ermöglichte der Künstlerin, sich konventionellen Rollenzuschreibungen zu entziehen.

Doch auch wenn die Frage von Raum und Geschlecht (der symbolischen Verortung des Weiblichen) weiterhin Thema ihres Schaffens blieb, so war die kritische Verhandlung gesellschaftlicher Rollenbilder nie wieder so präsent, wie im Frühwerk der Künstlerin. Weitete sie ihre Arbeiten anfänglich zu einem Resonanzraum gesellschaftspolitischer Fragestellungen aus, so konzentrierte sich Merz im Laufe der Jahre zunehmend auf die Erkundung von Innerlichkeit und geistlichen Erfahrungsräumen. Folgt man der Entwicklung ihres Werks durch die Ausstellungsräume des Salzburger Museums, lässt sich dies auch an der sich wandelnden Materialauswahl ablesen. Neben Lehm, Wachs und Holz verwendete sie mit der Zeit auch höherwertige Materialien, was ihre Kunst zunehmend dekorativ erscheinen lässt. Statt Nylonfaden nahm sie ab den 70er Jahren Kupferdraht, um daraus klein- und großformatige Objekte – Quadrate, Dreiecke, und mehrere Versionen der Scarpette – zu stricken. Auch ihre Kopfskulpturen, Teste, die sie ebenfalls in den 70er Jahren anzufertigen begann, verzierte sie mit glänzenden Gold-, Silber- und Kupfertönen, Malereien und Zeichnungen ab den 90ern sogar mit echtem Blattgold.

Je erfolgreicher Marisa Merz als Künstlerin wurde, desto mehr wurde die Kunst zu ihrem Rückzugsort. Während sie im Jahr 1975 spulenweise Kupferdraht zu einer ortsspezifischen Installation in der Galerie L'Attico in Rom verarbeitete, um die Maße ihres Körpers mit der Architektur des Kunstraums ins Verhältnis zu setzen, diente ihr das selbe Material Mitte der 90er Jahre dazu, mehrere Holzrahmen mit den dünnen, glänzenden Fäden zu bespannen. Die zwei doppelflügelige Paravents, die sie für eine Einzelausstellung im Centre Pompidou anfertigte, lassen sich als Verweis auf das Bedürfnis der Künstlerin lesen, sich von der Außenwelt abzugrenzen und Ruhe im Raum ihrer eigenen Kunst zu suchen.

Die Ausstellung im Museum der Moderne zeichnet nach, wie aus gesellschaftspolitischer Befragung poetische Innenansicht und schließlich kontemplative Andacht wird. Im Spätwerk der Künstlerin sind religiöse Referenzen nicht zu übersehen. Am Ende des Rundgangs gelangt man zu einer Installation aus 15 spiralförmig angeordneten Glastischen, auf denen die Künstlerin ebenso viele Teste angeordnet hat. Die Arbeit Senza Titolo (Tavola para Marisa) aus dem Jahr 2003 fertigte Marisa gemeinsam mit ihrem Mann Mario Merz an, der kurz darauf verstarb. In unmittelbarer Nähe sind großformatige Zeichnungen von Madonnenfiguren und engelsartigen Gestalten in Rot, Blau und Gold zu sehen. Schließlich plätschert gleich neben dem Ausgang ein Brunnen (Fontana, 2015), der zu einer Meditation vor den großen Fenstern des Museums einlädt. Wer den Blick über die letzten Arbeiten der Künstlerin und dann über Bäume und Himmel schweifen lässt, kann sich dem Eindruck spiritueller Entrückung nicht entziehen. Was sich im Spätwerk von Marisa Merz abzeichnet, ist die Suche nach dem Sakralem und nach Introspektion - nach einem Raum, in dem sich der Himmel spiegelt. Aus der Küche ist eine Kirche geworden.

Marisa Merz, Living Sculpture, 1966, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer

Marisa Merz, BEA, 1968, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer

Marisa Merz, Altalena (Swing), 1968, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer

Marisa Merz, Scarpette, 1966, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer

Marisa Merz, Teste, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer

Marisa Merz, Fontana, 2015, Museum der Moderne Salzburg, Bild: Nada Schroer