Das Salz der Geschichte
Anna Boghiguian im Museum der Moderne Salzburg

Irgendwo auf der Reise zwischen kolonialen Eroberungszügen und der Globalisierung von Kapital- und Warenströmen hat die Zivilisation Schiffbruch erlitten. Hinter ihr liegt ein Wettrennen durch die Irrgärten der Moderne. Vor ihr der sich verengende Horizont westlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle.

Vielleicht könnte man Anna Boghiguian als eine Chronistin dieser Irrfahrt bezeichnen. Eine Nomadin, die auf ihren Reisen Eindrücke, Anekdoten und Wörter sammelt – Treibgut, das ihr die Geschichte vor die Füsse spült. In ihren Arbeiten setzt sie diese Fundstücke sorgsam zu eigenen Erzählungen zusammen und folgt dabei den Spuren des globalen Handels. Von der Antike, über die Kolonialzeit bis in die Gegenwart untersucht sie die Politiken des Rohstoffhandels und erkundet die Schrecken der Sklaverei, die als kollektives Trauma den postkolonialen Status Quo prägen. Doch auch Momente der Freiheit und Selbstbestimmung sind in ihren Arbeiten zu finden. Sie scheinen als Bezüge auf die Kämpfe gegen die koloniale Unterdrückung oder in Zitaten und Fragmenten aus Poesie, Philosophie und Musik auf.

Die Kosmopolitin und ihre Verbündete

Anna Boghiguian, 1946 in Kairo geboren, wuchs als Kind von armenischen Emigranten in der ägyptischen Diaspora auf. Sie studierte Politikwissenschaft an der American University of Cairo und ging später nach Kanada, wo sie sich für die Fächer Kunst und Musik einschrieb. Ausgedehnte Reisen führten sie unter anderem auf den indischen Subkontinent. Hier füllte sie Notizbuch um Notizbuch mit Skizzen, Malereien und Zeichnungen. Einen anderen Bezugshorizont für Boghiguians künstlerisches Schaffen stellen ihre Streifzüge durch Philosophie-, Psychologie- und Literaturgeschichte da. Zahllose Referenzen zu geistigen Weggefährten tauchen in ihren Aquarellen, Zeichnungen, Collagen und raumgreifenden Installationen auf, unter ihnen Rabindranath Tagore, Friedrich Nietzsche oder Konstantinos Kavafis. Dies alles fügt Boghiguian zu dichten Momentaufnahmen kosmopolitischer Kulturgeschichte zusammen, wobei ihr Blick weit über den europäischen Kontext hinaus reicht.

Rauschen der Weltgeschichte

Boote, Bewegung, Migration - das Rauschen der Weltgeschichte. Im Museum der Moderne in Salzburg – der ersten musealen Einzelausstellung von Anna Boghiguian im deutschsprachigen Raum – werden die Betrachtenden in einen Strudel der Gedanken, Assoziationen und Bilder hineingezogen. Zum Auftakt des Rundgangs hat Boghiguian das Atrium des Rupertinums in eine raumgreifende Installation verwandelt. Das alte Segel eines Fischerkahns erstreckt sich über die drei Etagen des Lichthofes, bemalt mit Zeichnungen von Vögeln, Karten und Textzeilen. Die Geschichte, die die Auftragsarbeit Trade + Birds (2018) begleitet, handelt von dem Streben nach Freiheit und Bewegung, Anpassungsfähigkeit und dem Überleben des Stärkeren.


Knotenpunkte des Unterbewusstseins

Zwei Räume weiter wird das Motiv des nautischen Transportmittels wieder aufgegriffen. Auf dem Boden der Installation The Salt Trader (2015), die Boghiguian für die 14. Istanbul Biennale anfertigte, breiten sich die Teile eines zerbrochenen Kahns aus. Salz bedeckt den gesamten Boden des Raums und legt sich bald wie ein Film über Haut und Atemwege. Es knirscht unter den Schuhen. Acht Holzstrukturen dienen als Rahmen für Zeichnungen, Behälter mit farbigen Kristallen und Bienenwaben – ein Verweis auf die chemische Struktur des Salzes und Grundlage einer wachshaltigen Farbe, die die Künstlerin für ihre Zeichnungen verwendet. Rollen roten Fadens liegen in mehreren Ecken des Raumes und deuten unmissverständlich auf die zahlreichen narrativen Stränge, anhand derer Boghiguian die historischen und politischen Bedeutung des “weißen Goldes” nachvollzieht und zu einer immersiven räumlichen Erzählung zusammenfügt. Über das Salzbergwerk im Salzburger Dürrnberg, das die Region zu Zeiten der Kelten und Römer zu einem Knotenpunkt des Handels werden ließ, über die osmanische Eroberung Konstantinopels, bis hin zu einem Foto, das ein vertrauliches Zusammentreffen zwischen Barack Obama und Recep Tayyip Erdogan beim G20-Treffen im Jahr 2011 zeigt – The Salt Trader schickt die Betrachtenden auf eine Reise durch zwei Jahrtausende Handelsgeschichte und tief hinein in das kollektive kapitalistische Unterbewusstsein, das geprägt ist von Herrschaft, Verfall und Korruption.

Sinngewässer

Die Geschichte des Salzes ist ein künstlerisches Faszinosum, nicht nur für Boghiguian. Zeitgleich kann man dies auf der Manifesta 12 im 1.800 km weit entfernten Palermo beobachten, wo die Arbeit The Soul of Salt (2016) der Niederländerin Patricia Kaersenhout im Palazzo Forcella de Seta zu sehen ist. Der Stoff wird auch hier zum Ausgangspunkt und Würzmittel der künstlerischen Verhandlung.

Während Kaersenhout die Sklavenlegende der “Flying Africans” aufgreift und mit dem Schicksal der Flüchtenden verknüpft, um das sich fortsetzende Leid kolonialisierter Körper zu verhandeln, nimmt auch Boghiguian den Stoff in Salzburg zum Anlass, um die Geschichte lokaler Begebenheiten – den Abbau von Steinsalz – in ein mikro- und makroperspektivisches Netzwerk aus chemischen, politischen und ökonomischen Verbindungen einzufügen. Der Gang durch die Ausstellung wird auf diese Weise selbst zur Fahrt auf einem Schiff, das durch die tiefen Sinngewässer der Künstlerin navigiert werden muss. Genauso gut kann man sich einfach nur treiben lassen. Wenn einen auch das Gefühl nicht verlässt, an Bord eines morschen Dampfers einer dunklen Zukunft entgegen zu steuern.

http://www.nadaschroer.de/files/gimgs/th-155_Anna Boghiguian The Salt Traders, 2015 (Die Salzhändler) copy.png
http://www.nadaschroer.de/files/gimgs/th-155_Anna Boghiguian Trade + Birds, 2018 (Handel + Vögel) copy.png