Introducing Alice Peragine: DETECT AND AVOID

Dear Humans...
Detect and Avoid, Schimmel Projects, 23.3.2019

Wenn ich mich mit Alice Peragines Arbeiten beschäftige, bin ich immer wieder fasziniert von dem paradoxen Gefühl von großer Nähe und ebenso großer Distanz. Nähe, weil ich als Betrachterin das Gefühl habe, Zeugin von einer intimen mitunter existentiellen Aushandlung zwischen ganz unterschiedlich beschaffenen Akteur_innen zu sein, die Alice in ihren Installationen und Performances anordnet. Distanz, weil trotz der gefühlten Nähe etwas abwesend ist, das man eigentlich mit “Nähe” verknüpfen würde: das vertrauliche Aufeinandertreffen zweier menschlicher Körper zum Beispiel, die ihre Möglichkeiten in Bezug zueinander aushandeln. Hier jedoch handelt es sich um eine andere Form des Beisammenseins. Es handelt sich um eine Nähe, die dadurch entsteht, dass eben nicht nur Menschen teilhaben, sondern auch materielle und immaterielle Dinge aufeinander einwirken und Einfluss nehmen.

Die performativen Settings, die Alices Peragine inszeniert, erinnern dabei meistens an laborartige Situationen, in denen verschiedene menschliche und nichtmenschliche, zumeist technische Entitäten miteinander wirken. Dies ist etwa bei der Performance Translucent aus dem Jahr 2017 der Fall. Hier treten zwei Akteur_innen auf, die durch eine ausziehbare Leine miteinander verbunden sind, jedoch immer auf Distanz zueinander bleiben. Um ihre Hüften tragen sie Gürtel, an denen unterschiedliche Gebrauchsgegenstände befestigt sind, wie zum Beispiel eine Taschenlampe und ein Funkgerät. Die Choreographie, die sich aus der Abfolge von nonverbalen Impulsen und Reaktionen ergibt, gleicht einem Spiel, dessen Regeln man als Außenstehende nicht nachvollziehen kann. Die Performer_innen setzen die einzelnen Objekte wie Jocker in einem Kartenspiel ein, um die Handlungsabläufe zu strukturieren und ihnen eine bestimmte Richtung zu geben. Ihr Bezug zu- und ihre Macht übereinander wird durch dieses Mensch-Ding-Gefüge bestimmt. Nie ist zu 100% klar, wer gerade den Ablauf vorgibt – oder ob dies überhaupt eine Rolle spielt. Sicher ist nur, so lehrt es die Spieltheorie, dass die Entscheidungsoptionen und das Handeln der einzelnen Akteur_innen im Raum von den Aktionen der anderen abhängig sind.

Es mag bereits angeklungen sein, dass ich hier in Bezug auf Alices Peragines Arbeiten keinen anthropozentrischen Akteurs- und Handlungsbegriff verwende, sondern Handlungsfähigkeit (auch agency) in technologisch durchdrungenen Umgebungen im Sinne der post-strukturalistischen Theorie verstehe. Ohne hier in die Tiefe zu gehen, werden Apparate zum Beispiel bei Deleuzes und Guattari nicht mehr als klar abgrenzbare Objekte verstanden, sondern als ein offenes, instabiles “maschinisches Gefüge”, das “alle Arten von Beziehungen zu sozialen Komponenten und individuellen Subjektivitäten (unterhält).” Die Handlungsfähigkeit ergibt sich aus einem performativen Prozess, in dem unterschiedliche Elemente – Menschen, Dinge, Symbole, Begierden, Affekte – sich miteinander verbinden, aufeinander einwirken und so eine neue wirkmächtige Entität bilden. Bruno Latour, der die Akteur-Netzwerk-Thorie geprägt hat, hebt aus seiner Perspektive den Unterschied zwischen dem als aktiv konnotiertes Subjekt und dem als passiv konnotiertes Objekt zu Gunsten einer vollständigen Symmetrie auf und spricht von Akteuren und Aktanten. Handeln und Subjektivität erscheint dann nicht mehr als Triumph eines absoluten Ichs, das in dieser vermeintlichen Herrschaftsposition weder auf einen verletzlichen Körper angewiesen ist noch auf seine Relationen mit der Bios- und Technosphäre. Sondern sie entsteht in einem radikal distribuierten Prozess zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Organischem und Anorganischem, zwischen allen Lebewesen und auch dem, was nicht lebendig erscheint. In diesem Gefüge hängt alles mit allem zusammen, wie es der der Anthropologe Gregory Beatson in den 70er Jahren vereinfacht ausdrückte, ein Ausspruch, der von der Umweltbewegung begeistert aufgenommen wurden und heute zu einem „medienökologischen Allgemeinplatz“ geworden ist.

Alices Peragines Arbeiten können vielleicht als Versuchsanordnung gelesen werden, um solchen Gefügen und ihren Handlungsprogrammen auf die Spur zu kommen und die soziotechnologischen, medialen und biochemischen Infrastrukturen abzutasten. Mit aller Präzision baut sie eine dichte Choreografie auf, wobei sowohl die einzelnen Elemente – Körper, Materialien, Substanzen und Klänge – als auch die prekären Punkte, an denen diese Elemente aufeinandertreffen, wahrnehmbar werden. Als Teil ihrer Settings sind machmal knackende Walkie Talkies zu hören, wie in der Installation Soft Core – Audio/Visual Room von 2016 oder der durch einen Vocoder verzerrten Gesang einer Stimme – Klänge die bestimmte Bilder, Gefühle oder Stimmungen hervorrufen oder – basierend auf dem Grad der Bestimmbarkeit oder Beschreibbarkeit – auch nur einen flüchtigen Eindruck von Sehnsucht, Unwohlsein oder Verlangen hinterlassen. Sie erzeugen affektive Wellen, die sich im Raum verteilen und von den Anwesenden empfangen werden,“unqualified“, wie Brian Massumi es ausdrückt, und daher „not ownable or recognizable and (…) thus resistant to critique“.

Manchmal ist da auch der Rauch einer E-Zigarette, deren Wolke für kurze Zeit ein Gesicht unkenntlich macht und gleichzeitig in die Lunge und von dort aus in die Nervenbahnen eindringt, um dort die Synapsen mit Botenstoffen zu versorgen. Die unsichtbare Mikroperformativität der Aerosolpartikel, die den Körper bespielen.

Dieser Körper wiederum steht in Alices Arbeiten niemals allein im Zentrum, sondern ist stets bestückt mit Attributen, die seine Form und seinen Ausdruck verändern. Diese Attribute sind Rüstung, Ausrüstung und prothetische Erweiterungen, die den Körper mit einem virtuellen Potential versehen und ihm ihre Skripte einschreiben. Zu den Tools, die im Zeichenrepertoire der Künstlerin einen festen Platz einnehmen, gehören zum Beispiel eine Kamera, die einen Standpunkt der Beobachtung und Kontrolle etabliert und eine ausziehbare Hundeleine, um eine Grenze oder ein Territorium zu markieren. Manchmal ist auch ein Stück Gewebe aus Aramid-, Kohle- oder Glasfaser Teil der Szenerie, Gewebe, die verwendet werden, um Westen schusssicher oder ein Flugzeug leichter und schneller zu machen. Dies alles sind Dinge, die als Verweis auf ein historisches gewachsenes instrumentelles Technikverständnis stehen könnten. Technik wird hier als Mittel zum Zweck des Fortschritts durch die Kontrolle von Körper, Raum und Materie definiert, was in Alice Peragines Arbeiten oft an der Schnittstelle zum performenden Körper und zu den handlungsleitenden Werkzeugen, untersucht und auseinandergenommen wird.

Die Bilder, die sie erzeugt, verhandeln daher in manchen Momenten durchaus kritisch den paradigmatischen Traum von der Überwindung des biologischen Körpers durch seine invasive oder extensive Erweiterung und Optimierung. Mit dem Einzug der Kybernetik und Systemtheorie in die technologisch-militärische, sowie in die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung nach dem zweiten Weltkrieg wird dieser Traum das erste mal wissenschaftlich ausdefiniert und erhält einen Namen. 1960 brachten der Psychologe Nathan S. Kline und sein Kollege Manfred E. Clynes den Begriff des Cyborgs ins Spiel. In seinem konkreten (nicht metaphorischen) Sinn bezeichnet „Cyborg“ einen sich selbst regulierenden Organismus (cybernetic organism), der sich aus organischen und technischen Anteilen zusammensetzt. Clynes und Kline spekulierten auf die baldige Möglichkeit, den Körper durch technische Implantate, wie zum Beispiel intravenöse Ernährungssonden und von Houston gesteuerte Medikamenteninfusionen für einen Spaziergang im Weltraum ohne Raumanzug zu modifizieren.

Der Cyborg ist bis heute eine Maschine der Narrativ- und Bildproduktion für die Kunst, Popkultur und Wissenschaft, die kulturell geformte Vorstellungen der Grenzverläufe von Technik und Mensch und dessen biologische Prämissen auf einer molekularen bis planetarischen Skala verhandelt. Hierunter finden sich Ansätze libertärer Transhumanisten, die davon träumen, die vermeintliche Vormachtstellung der menschlichen Spezies durch technologische und pharmazeutische Optimierung einzelner mitunter privilegierter Individuen zu sichern. Aus feministischer Perspektive argumentiert dagegen Donna Haraway, dass Menschen nicht als abgeschlossene Entitäten verstanden werden können, sondern stets in ein komplexes Netzwerk aus biologischen und technologischen Aktanten eingebunden sind. Mit ihrem Cyborgkonzept aus den 80er Jahren hinterfragt sie das vom Humanismus tradierten Menschenbild und die aus ihrer Perspektive längst überkommenen Dichotomien, die diesem unterliegen, wie beispielsweise zwischen Menschen und Technik, Natur und Kultur sowie Subjekt und Objekt.

Alice Peragines Arbeiten zitieren eine gewisse Cyborgästhetik, dennoch wirken Ihre Akteur-innen oft verletzlich und interdependent und befragen den Moment in dem sich Technologie und Körper treffen und durchdringen. Ein zentraler Aspekt ist hier die Kostümierung. Diese ist an die Ästhetik von Uniformen und klassischer Arbeits- und Schutzbekleidung angelehnt, zitiert aber auch bestimmte Codes von der Straße und verweist damit auf soziale, ökonomische und kulturelle Kontexte, in denen der Körper zum Einsatz kommt und durch die Kleidung in seiner typischen Performance unterstützt wird und diese mitbestimmt. Gadgets werden bei ihr oft eng am Körper getragen, um die Hüfte geschnallt oder um den Hals gehangen. Sie sind, Schmuck, Werkzeug und Agent zu gleich Wearable Technology: „Science Fashion“ (1). Für mich weist das auf die Frage hin, wie Kleidung mit performt, also in welche Rolle wir schlüpfen, wenn wir uns sie anlegen und was passiert, wenn diese Kleidung bald smart und konnektiv wird.

Womit wir wieder bei der Frage der Verteilung von agency und dem Verhältnis von Empowerment und Kontrolle angekommen sind, die hier mitschwingt. Denn in einer medientechologischen Umwelt erfährt diese Extension durch Technologien, in die der Körper eingebettet ist, auf die er reagiert und die auf ihn reagieren, ein gigantisches virtuelles Ausmaß. Agency ist zu einer environmental distribuiertem Ressource geworden.

Dies alles klingt in Alices Arbeiten an und kulminiert in der Spannung, einerseits zwischen dem Eindruck der Schutzbedürftigkeit des menschlichen Körpers angesichts des Ausmaßes an Interdependenz und andererseits dem Eindruck der Macht, die er durch die Allianz mit den medientechnologischen Aktanten erhält. Natürlich geht es nicht darum, diese Spannung aufzulösen, sondern zur Verhandlung zu stellen, inwieweit Technologien auf das, was wir gemeinhin Subjektivität und Identität nennen, einwirkt, um damit zu einem Nachdenken über posthumane Relationalität anzuregen.

(1) Smelik, Anneke (2018): Wearable Technology, in: Braidotti, Rosi/ Hlavajova, Maria (Hg.): Posthuman Glossary, London: Bloomsbury, S. 455 – 458.

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